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„Wiederbelebung“ der Behördenbetreuung?

Beschluss des Amtsgerichts Brandenburg vom 07.03.2024 – 85 XVII 33/24
Das Amtsgericht Brandenburg hat klargestellt, dass die Betreuungsbehörde als Betreuer im Einzelfall zu bestellen ist und die Übernahme der Betreuung durch die Behörde mit dem Verweis auf Überlastung und Personalknappheit nicht verweigert werden kann (§ 1818 Abs. 4 BGB).

Im vorliegenden Fall wurde die Betreuungsbehörde im Wege der einstweiligen Anordnung als Betreuerin der Betroffenen bestellt. Die Betroffene war krankheits-bedingt nicht mehr in der Lage, eine Vorsorgevollmacht zu erteilen und es waren kurzfristig wichtige rechtliche Angelegenheiten zu besorgen. Nachdem die Betreuungsbehörde weder einen ehrenamtlichen Betreuer noch einen Berufsbetreuer vorschlagen konnte, die zur Übernahme der Betreuung bereit gewesen wären und auch nicht ausnahmsweise ein Betreuungsverein als Betreuer bestellt werden konnte, wandte die Betreuungsbehörde gegen ihre Bestellung nach
§ 1818 Abs. 4 BGB ein, sie sei wegen Arbeitsüberlastung und Personalknappheit mit der Übertragung der Betreuung nicht einverstanden. Das Betreuungsgericht entgegnete daraufhin, dass eine Einverständniserklärung der Betreuungsbehörde nicht erforderlich ist und die Voraussetzungen des § 1818 Abs. 4 BGB im zugrundeliegenden Verfahren gegeben sind.

Die Entscheidung des Amtsgerichts Brandenburg ist nicht zu beanstanden, da durch § 1818 Abs. 4 BGB ein Auffangtatbestand der Behördenbetreuung gegeben ist. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um keine Neuerung, welche im Zuge der Reform eingeführt wurde. Vor der Reform war der Auffangtatbestand in § 1900 Abs.4 BGB normiert.

Der im Zuge der Reform des Betreuungsrechts zu beobachtende akute Mangel an gut ausgebildeten Berufsbetreuern führt allerdings derzeit zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Wiederbelebung der Behördenbetreuung. Anders als freiberuflich tätige Betreuer und ehrenamtliche Betreuer ist die Übertragung einer rechtlichen Betreuung auf die Behörde im Interesse der Betroffenen nicht von der Bereitschaft zur Übernahme der Betreuung abhängig. Das eigentliche Problem wird dadurch selbstverständlich nicht gelöst. Denn die Arbeitsüberlastung zahlreicher Betreuungsbehörden dürfte Realität sein. Durch die steigende Anordnung von Behördenbetreuungen droht daher eine Betreuungsführung, die sich notgedrungen auf das Nötigste beschränkt; also in der Regel vom Schreibtisch ausgeführt wird. Dadurch wird nicht nur der Zweck der Reform des Betreuungsrechts konterkariert, sondern könnten den Landeskassen bei einer Personalaufstockung auch deutlich höheren Kosten entstehen. Nur wenn es dem Gesetzgeber gelingt, zügig Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Betreuerberuf attraktiv ausgestalten, indem beispielsweise Freiberufler bei der Aufsicht entlastet werden und ihnen mehr Verantwortung übertragen wird, können zukünftig die rechtlichen Aufgaben für auf eine Betreuung angewiesene Menschen angemessen erledigt werden.

Quelle: BtPrax-Newsletter August 2024 / Quellenangabe: 10. April 2024, Betreuungs-/ Sozialrecht, Bobisch / Widmann BT Direkt

4. Ziele, Inhalt u. Ausgestaltung v. Assistenzlt. n. § 78 SG

Ziel der Assistenzleistungen ist die Unterstützung bei der selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung. Davon umfasst sind insbesondere alltägliche Leistungen wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen, § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Aus Sicht des Deutschen Vereins ist der Begriff des Alltags in § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX weit zu verstehen. Die Assistenz ist eine Unterstützungsleistung, die sich am konkreten individuellen Bedarf orientiert und daher jeden Lebensbereich erfassen kann. Aus diesem Grund und im Hinblick auf eine Auslegung der Norm im Lichte der UN-BRK können daher auch Lebensbereiche umfasst sein, die nicht ausdrücklich benannt sind, wie z.B. eine Begleitung während einer Urlaubsreise.9 Während in § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX Assistenzleistungen exemplarisch für einige Lebensbereiche konkretisiert sind, wird in Satz 3 klargestellt, dass auch die Kommunikation 6 Vgl. BT-Drucks. 16/10808, S. 54. 7 Die Regelungen gelten auch für andere Rehabilitationsträger, wie z.B. Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und Träger der öffentlichen Jugendhilfe, vgl. § 6 Abs. 1 SGB IX. 8 Die Regelungen gelten für die Träger der Eingliederungshilfe. 9 Vgl. auch Entscheidung des BSG vom 19. Mai 2022, B 8 SO 13/20 R, in der ein Anspruch auf Zahlung der Kosten für die Urlaubsreise der Begleitperson als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 19 Abs. 3 SGB XII a.F. i. V. m. §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. und § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX als behinderungsbedingt notwendige Mehrkosten anerkannt wird. Seite 6 mit der Umwelt in diesen Bereichen mit umfasst ist. Daher müssen die Assistenzkräfte gemäß § 124 Abs. 2 Satz 2 SGB IX auch über die Fähigkeit zur Kommunikation mit den Leistungsberechtigten in einer für die Leistungsberechtigten geeigneten und wahrnehmbaren Form verfügen. Hierfür kann es einer qualifizierten Fachkraft bedürfen (z.B. als Assistenzkraft für Menschen mit einer starken Hörsehbehinderung, die nur taktil kommunizieren können). Die eigenständigen Leistungen zur Förderung der Verständigung nach § 82 SGB IX beschränken sich dagegen wie bisher auf die Verständigung aus besonderem Anlass. Die Digitalisierung spielt nahezu in allen Lebensbereichen eine immer größere Rolle. Das Internet und digitale Medien werden in der Gesellschaft genutzt, sowohl im privaten als im beruflichen Alltag. Gesellschaftliche und soziale Teilhabe bedeuten daher auch immer stärker digitale Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Eine selbstbestimmte, souveräne Mediennutzung und der Abbau von Barrieren sind dabei wesentliche Voraussetzung, um Menschen mit Behinderungen digitale und damit soziale Teilhabe zu ermöglichen. Der Deutsche Verein weist daher darauf hin, dass die Assistenz bei der digitalen Teilhabe auch von § 78 Abs. 1 SGB IX umfasst ist. Für viele Lebensbereiche ist Mobilität eine wichtige Zugangsvoraussetzung. In einer zunehmend inklusiven Gesellschaft spielt die Mobilitätsassistenz daher eine immer wichtigere Rolle. Menschen mit Behinderungen, die nicht in einer WfbM arbeiten oder in Förderschulen unterrichtet werden, benötigen ggf. eine Assistenz bei der Nutzung des ÖPNV oder anderer Mobilitätsmittel. Diese wird durch eine Mobilitätsassistenz sichergestellt. Aus Sicht des Deutschen Vereins bildet dafür ebenfalls § 78 Abs. 1 SGB IX eine Rechtsgrundlage. Assistenzleistungen können danach auch darauf ausgerichtet sein, die Erreichbarkeit und den Besuch von Freizeitaktivitäten zu ermöglichen, wie etwa durch Beförderung und Begleitung.10 Der erforderliche Bedarf ist wie bei allen Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen der Bedarfsermittlung und Gesamtplanung zu ermitteln. In § 78 Abs. 2 SGB IX wird die Autonomie der leistungsberechtigten Person hin sichtlich der Ausgestaltung der Assistenzleistungen zum Ausdruck gebracht. Danach entscheiden die Leistungsberechtigten über die konkrete Gestaltung der Leistungen hinsichtlich Ablaufs, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme – auf der Grundlage des Gesamt-/Teilhabeplans. Dies gilt unabhängig von der Wohnform. Insbesondere bei besonderen Wohnformen sind damit jedoch erhebliche Herausforderungen für die Leistungserbringer bei der Organisation der Leistungserbringung, insbesondere der Personalplanung, verbunden

Quelle: BtPrax-Newsletter Juli 2024

2. Der Assistenzbegriff des BTHG

In der Gesetzesbegründung zum BTHG wird der Begriff der Assistenz dahingehend
erläutert, dass dieser „in Abgrenzung zu förderzentrierten Ansätzen der Betreuung, die ein Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten bergen, ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck gebracht (wird).“ Bei der Unterstützung durch Assistenzkräfte geht es nicht mehr um Versorgung und Förderung im wohlverstandenen Interesse der leistungsberechtigten Person, sondern um deren Unterstützung bei der selbstbestimmten und möglichst eigenverantwortlichen Ausgestaltung und Umsetzung ihres eigenen Lebensentwurfs. Laut Gesetzesbegründung zum BTHG wird „vor diesem Hintergrund konsequenterweise auch die Beziehungs-gestaltung zwischen Leistungsberechtigten und Leistungserbringern neu bestimmt. Angesichts dieses neuen Fokus weist der Deutsche Verein darauf hin, dass auch Menschen mit besonders hohem Unterstützungsbedarf bzw. mit komplexen Behinderungen Wahlmöglichkeiten haben und dabei unterstützt werden sollten, gemeinsam Ziele und Zukunftsperspektiven zu entwickeln, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen. Notwendig ist, im Dialog ein Verständnis für die Perspektiven der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zu entwickeln und Prozesse konsequent an ihrem Bedarf auszurichten. Das Gesamt- und Teilhabe-planverfahren einschließlich der Bedarfsermittlung und die Leistungsvereinbarungen haben dabei die Aufgabe, die Perspektiven der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf einzubeziehen. Die Methoden der unterstützten Kommunikation sowie Konzepte und Methoden der persönlichen Zukunftsplanung sowie der
persönlichen Recovery-Planung, die Menschen dabei unterstützen sollen, über ihre ganz persönlichen Lebensfragen nachzudenken und die eigene Gegenwart, Zukunft und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gestalten, können dabei geeignete Instrumente sein, um die Partizipation von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zu gewährleisten.
Entwicklungsmotor für den Begriff der „Assistenz“ war der in der Selbstbestimmt Leben-Bewegung und seit Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001 entwickelte Begriffe der „Persönlichen Assistenz“, der insbesondere mit dem Arbeitgebermodell in Verbindung gesetzt wird. Der BTHG-Begriff der Assistenz orientiert sich an Art. 19 UN-BRK und umfasst die an den Wünschen des Menschen mit Behinderungen oder an seinem Willen und an seine partizipativ im Gesamtplan- oder Teilhabeplanverfahren ermittelten Bedarfe anknüpfende Teilhabeleistung. Der Begriff der persönlichen Assistenz in der UN-BRK schließt sowohl das Arbeitgebermodell mit arbeitgeberrechtlichen Kompetenzen (insbesondere Personal-, Anleitungs-, Organisations- und Finanzkompetenz) ein als auch Assistenzleistungen mit Steuerungskompetenz der leistungsberechtigten Person in anderen Kontexten (z.B. besondere Wohnformen und andere Unterstützungsdienste). In der Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK wird der Begriff der „Persönlichen Assistenz“
auch verwendet, eine damit beabsichtigte Änderung oder Ergänzung mit Blick auf
die bestehenden Leistungsansprüche und das vorhandene Leistungssetting ist.

3 BT-Drucks. 18/9522, S. 261.
4 Amering, M./Schmolke, M.: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit, 5. Aufl., Köln 2012.
5 Dabei geht es um die Steuerung der Leistung „hinsichtlich Ablauf, Ort und Zeitpunkt“ nach § 78 Abs. 2
SGB IX.

Quelle: BtPrax-Newsletter Juli 2024

3. Die neuen Regelungen zu Assistenzleistungen im SGB IX

Mit der Neustrukturierung des SGB IX durch das BTHG wurden Assistenzleistungen als eigener Leistungstatbestand in Teil 1 im Leistungskatalog der Sozialen Teilhabe, §§ 76 Abs. 2 Nr. 2, 78 SGB IX7 für alle Rehabilitationsträger und in Teil 2 in §§ 113, 116 SGB IX8 aufgenommen. In § 78 SGB IX – welcher im Recht der Eingliederungshilfe nicht allein, sondern nur im Zusammenhang mit § 113 Abs. 1 und 2 Nr. 2 sowie § 116 SGB IX zu lesen ist – wird beschrieben, was eine Assistenzleistung ist und dass diese von den zuständigen Rehabilitationsträgern nach deren jeweiligen Leistungsgesetzen zu erbringen ist, vgl. § 6
i. V. m. § 5 SGB IX. Bei der Regelung des § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX handelt es sich nach wie vor um einen offenen Leistungskatalog („insbesondere“). Ein Anspruch besteht auch nach der Reform durch das BTHG weiterhin im Umfang der für die Deckung der individuellen Bedarfslagen erforderlichen Leistungen. Als Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind diese Assistenzleistungen nachrangig gegenüber gleichartigen Leistungen der medizinischen Rehabilitation, Teilhabe an Bildung oder zur Teilhabe am Arbeitsleben, § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, § 102 Abs. 1 SGB IX.

Quelle: BtPrax-Newsletter Juli 2024

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